Panzerkreuzer Potemkin (1925) gilt als einer der einflussreichsten Filme überhaupt. Das liegt vor allem an der Art und Weise, wie Sergei Eisenstein die Montage einsetzt, um den Zuschauer emotional und ideologisch zu beeinflussen. Zwar lehnt sich die Handlung des Films an die tatsächliche Meuterei auf einem russischen Kriegsschiff während der ersten russischen Revolution von 1905 an, doch geht es Eisenstein vor allem um die Inszenierung und Dekonstruktion von typisierten Charakteren. In der berühmten Treppenszene von Odessa setzt er diese Typisierungen geschickt ein, um das Aufbegehren der Menschen als Masse gegen das verhasste zaristische Regime zu inszenieren.
In seinem ersten Film Streik setzt Eisenstein mit der Schlachthaussequenz noch auf die direkte, schockierend-schonungslose Analogie der Bilder. Seine Montage der Attraktionen ist gekennzeichnet durch ein aggressives Moment, das das Publikum psychologisch beeinflusst: „verified by experience and mathematically calculated to produce specific emotional shocks in the spectator in their proper order within the whole” (Eisenstein 1988, 34). Im Panzerkreuzer Potemkin adressiert Eisenstein nun stärker das Publikum selbst – konkret: das Auge des Betrachters. Der Filmkritiker Leo Mur formuliert dazu treffend, dass Eisenstein nicht nur das Filmmaterial arrangiert habe, sondern auch die Gehirnzellen des Zuschauers (vgl. Nesbet 2003, 54).
Treppenszene in Odessa (Filmstandbild)
Eisenstein geht in der Treppenszene weit über die Möglichkeiten der rhythmischen Montage hinaus. Er plant dabei nicht nur die Montage selbst als ein sich gegenseitig bedingendes dialektisches System, sondern auch die Bildkomposition als Rahmen für das Aufeinandertreffen von Form und Masse. Eisenstein geht es um grafische Konflikte, die er mit geometrischer Präzision inszeniert. Das wird besonders an der Art und Weise deutlich, wie Eisenstein die zaristischen Kosaken darstellt – nicht als menschliche Soldaten, sondern als rhythmisch organisierte Maschinerie.
Der Widerstreit zwischen Mensch und Maschine ist auch eines der Hauptthemen des sowjetischen Konstruktivismus und der russischen Avantgarde. Die Konstruktivisten lösen sich komplett von der gegenständlichen Welt und vertreten ein technisch fundiertes Gestaltungsprinzip, das auf die geometrische Konstruktion von Fläche und Linie setzt. Abstrakte Konstruktion ist zwar auch ein Leitprinzip des Kubismus. Im Gegensatz zum Konstruktivismus verweist die Transformation der Natur jedoch immer noch bildhaft auf eine externe Realität (vgl. Kallai 1922). Die konsequente Weiterentwicklung der Abstraktion im sowjetischen Konstruktivismus (und besonders im Suprematismus) kann darin gesehen werden, dass mit der Verbindung einzelner Elemente eine neue Form geschaffen werden sollte: „All that was needed was the start of a total activity, to construct from the loose elements a solid, complex unit of form, to make intellectual art embody life in its greatest amplitude.“ (Ebenda)
Eisenstein orientiert sich im Panzerkreuzer Potemkin an beiden Stilrichtungen. Er ist davon überzeugt, dass der Kubismus (in Abgrenzung zum Impressionismus) in der Lage sei, den Betrachter über das bloße Sehen und Wahrnehmen hinaus gezielt zu adressieren bzw. zu aktivieren, wenngleich er das Ausdrucksmittel des Kubismus als statische Malerei kritisiert. Der Film jedoch, so Eisenstein, könne diese Begrenzung überwinden: „When we say that in the fundamental structure of film aesthecis there is retained the unique nature of the cinematic phenomenon – the creation of motion out of the collision of two motionless forms – we are not dealing with natural, physical movements but with something that has to do with the way our perception works.“ (Eisenstein 1988, 119)
El Lissitzky: Der Konstrukteur, 1924
1929 wird die Fotomontage Der Konstrukteur des russischen Konstruktivisten El Lissitzky in der Zeitschrift Foto-Auge veröffentlicht. Eisenstein ist so beeindruckt von der Collage, dass er sie einige Jahre später als Beispiel für „regression and pre-logic“ bezeichnet (vgl. Nesbet 2003, 46). Die Montage (aus dem Jahr 1924) zeigt das Gesicht des Künstlers – überblendet mit einem Zirkel und einer Hand, die den Blick des Betrachters vom Auge des Künstlers aus dem Bildzentrum herausführen. Für Eisenstein symbolisiert das Bild die dialektische Spannung zwischen Konkretem und Abstraktem, einer Sichtweise, die auch der Darstellung von Menschen und Typen im Panzerkreuzer Potemkin zugrunde liegt.
Bereits 1921 arbeitet Lissitzky an experimentellen Entwürfen, mit denen er die Ideen des Suprematismus in eine neue Dimension überführen will. Er nennt diese Arbeiten PROUN (Projekt für die Behauptung des Neuen). Gemeint ist die Konstruktion der neuen Form. Lissitzky betont in seinem Manifest Theses on the PROUN den Wandel des Künstlers: „From being a simple depicter the artist becomes a creator (builder) of forms for a new world — the world of objectivity. […] PROUN is understood as the creative construction of form (based on the mastery of space) assisted by economic construction of the applied material. The goal of PROUN is progressive movement on the way to concrete creation, and not the substantiation, explanation, or promotion of life.“ (Lissitzky 1920)
Lissitzkys PROUN-Werke weisen eine multidimensionale Struktur auf. Wie in Eisensteins Bildgestaltung und Montage prallen Elemente, Formen und Flächen im dialektischen Sinn aufeinander und erschaffen eine neues Gebilde. Mit mathematischer Präzision wird die Geometrie des Bilds berechnet. Die Palette der Farben reicht von der Nuancierung mit Grautönen bis zur starken Kontrastierung mit Rot, Blau und Gelb.
Kállai, Ernő: Lissitzky. In: Das Kunstblatt, vol. 6, no. 1, 1922. Übersetzt von Helene Aldwinckle und Mary Whittall.
URL: https://modernistarchitecture.wordpress.com/2010/10/24/erno-kallai’s-“lissitzky”-1922/ (abgerufen im Oktober 2016)
Lissitzky, El: Theses on the PROUN: From painting to architecture. Wizebsk / Moskau 1920.
URL: https://thecharnelhouse.org/2013/09/16/proun/ (abgerufen im Oktober 2016)
Nesbet, Anne: Savage Junctures: Sergei Eisenstein and the Shape of Thinking. London 2003.