Das Kabinett des Dr. Caligari

Das Kabinett des Dr. Caligari (1919/20) gehört zu den herausragenden Vertretern des deutschen Stummfilmexpressionismus. Der Expressionismus ist eine Stilrichtung, die neben der bildenden Kunst und dem Film auch die Literatur und Architektur stark prägt. Insbesondere in Deutschland ist der Expressionismus unter den Erfahrungen des Kaiserreichs und des Ersten Weltkriegs auch als Protestbewegung gegen die bestehenden herrschaftlichen Verhältnisse und das Bürgertum zu verstehen. Demzufolge behandeln viele Gemälde und Filme Themen wie Krieg und Zerstörung, Normalität und Wahnsinn, Urbanität, Macht und Einflussnahme, Angst und Depression. Der Expressionismus schreckt nicht vor dem vermeintlich Hässlichen zurück und lotet nicht selten die Abgründe der menschlichen Seele aus.

Das Kabinett des Dr. CaligariDas Kabinett des Dr. Caligari (Filmstandbild)   Fair Use

Übertreibung ist ein vielfach eingesetztes Stilmittel des Expressionismus. Mimik und Gestik der Schauspieler werden überpointiert dargestellt, die Kulissen im Kabinett des Dr. Caligari kehren die innere Gefühlswelt der Akteure nach außen. Die Räume und Gebäude trotzen mit ihren stürzenden Linien jeder Statik, alles scheint in Bewegung zu sein. Für die Mise en Scène, speziell das Dekor, ist die Künstlergruppe Der Sturm verantwortlich. Verzerrte Straßenfluchten und bedrohlich wirkende Schlagschatten werden teilweise direkt auf das Bühnenbild gemalt. Der Filmarchitekt Hermann Warm formuliert das Motto für die Ausstattung mit dem berühmten Satz: „Das Filmbild muß Graphik werden.“ (Warm 1965)

Der Film erzählt die Geschichte des Schaustellers und Hypnotiseurs Dr. Caligari und seines Mediums Cesare. Während Cesare den Menschen auf dem Jahrmarkt tagsüber ihre Zukunft voraussagt, benutzt ihn Dr. Caligari nachts als Instrument für eine Reihe von Morden. Francis, ein Freund eines der Opfer und zugleich Erzähler der Geschichte, entlarvt den Schausteller und führt eine aufgebrachte Menschenmenge zur Nervenheilanstalt, wo die Menge feststellt, dass Doktor Caligari als Direktor arbeitet. Doch Francis ist ein unsicherer Erzähler: Die Geschichte vom wahnsinnigen Doktor entspringt lediglich der Fantasie eines Patienten der Nervenheilanstalt. Der Filmhistoriker Arnos Vogel urteilt über die Doppelbödigkeit des Films: „This extraordinary work – in terms of impact, one of the most important films ever made – is a metaphysical construct disguised as a melodramatic thriller. Apparently the story of a mad magician who hypnotizes a somnambulist into committing murder, it is recounted by the protagonist in a setting revealed only at the end as part of an insane asylum, in which protagonist and actors are inmates, while the mad magician is actually their benevolent psychiatrist.“ (Vogel 1974, 72)

Gemalte SequenzGemalte Sequenz

Die Kulissen des Films erinnern stark an Bilder von Lyonel Feininger und Ludwig Meidner. Noch vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs verarbeitet vor allem Meidner in seinen Stadtlandschaften Elemente des Kubismus und Orphismus (vgl. Ludwig Meidner Gesellschaft 2015) und schafft damit Gebilde von sich überlagernden Perspektiven und Geometrien, die Robert Wiene im Kabinett des Dr. Caligari aufgreift: „Häuser und Stadtlandschaften werden nicht mehr als statisch geordnete Architektur dargestellt, sondern zeigen ein apokalyptisches Bedrohungsszenario.“ (Ebenda)

Meidner ruft 1914 in seiner Anleitung zum Malen von Großstadtbildern dazu auf, die Techniken der Impressionisten hinter sich zu lassen: „Malen wir das Naheliegende, unsere Stadt-Welt! die tumultuarischen Straßen, die Eleganz eiserner Hängebrücken, die Gasometer, welche in weißen Wolkengebirgen hängen, die brüllende Koloristik der Autobusse und Schnellzugslokomotiven, die wogenden Telephondrähte (…) die Harlekinaden der Litfaßsäulen, und dann die Nacht … die Großstadt-Nacht (…). Auf unzähligen, freskengroßen Leinwänden sollten unsre fiebernden Hände all das Herrliche und Seltsame, das Monströse und Dramatische der Avenüen, Bahnhöfe, Fabriken und Türme hinkritzeln.“ (Meidner 1914)

Das EckhausLudwig Meidner: Das Eckhaus, 1913   Fair Use

Das Eckhaus aus dem Jahr 1913 zeigt die Villa Kochmann in Dresden. Das Bild mit seinen Grün- und Blautönen strahlt eine dynamische Kraft aus, die gleichsam beunruhigend und verstörend wirkt. Das Haus scheint in ständiger Bewegung zu sein, die Geometrie der Architektur gerät in einen iterativen Prozess der Transformation. Als Betrachter fällt es einem nicht schwer, sich das Gemälde als Kulisse für Dr. Caligari vorzustellen, sozusagen als Sinnbild für die gebrochenen Seelen der filmischen Akteure.

Ludwig Meidner Gesellschaft: Werkphasen im bildnerischen Schaffen von Ludwig Meidner. Hofheim 2015.
URL: http://www.meidnergesellschaft.de/lm_kunst_werk.html (abgerufen im November 2016)
Meidner, Ludwig: Anleitung zum Malen von Großstadtbildern. Aus: Das neue Programm. In: Kunst und Künstler 12, 1914.
Vogel, Amos: Film as a Subversive Art. New York 1974.
Warm, Hermann: Meine Arbeit beim Film. Filmkunst 43, 1965, 11-13.